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Jutta Henke ist Geschäftsführerin und wissenschaftliche Leiterin der Gesellschaft für Innovative Sozialforschung und Sozialplanung e.V. (GISS). Das gemeinnützige unabhängige Institut mit Sitz in Bremen forscht national und international und berät öffentliche und freie Träger. Schwerpunkt der wissenschaftlichen Arbeit sind sozialpolitische Themen wie Wohnungslosenhilfe, Arbeitsmarkt- und Gesundheitspolitik sowie Familienpolitik.
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Jutta Henke leitet die Gesellschaft für Innovative Sozialforschung und Sozialplanung. Im Interview spricht die Sozialforscherin über Möglichkeiten, wie Wohnungslosigkeit verhindert werden kann.
Eine Wohnung ist essentiell, doch es gibt immer mehr Wohnungslose. Wie lautet Ihre Prognose?
Jutta Henke: Viele Städte hatten es schon geschafft, ihre Gemeinschaftsunterkünfte aufzulösen und die dort lebenden Menschen mit eigenen Wohnungen zu versorgen. In den vergangenen Jahren verzeichnen wir aber wieder einen Anstieg der Wohnungslosen. Das heißt nicht nur, dass wieder mehr Leute ihr Zuhause verloren haben. Auch der Anteil der anerkannten Geflüchteten unter den Wohnungslosen ist relativ hoch. Insofern herrscht bereits großer Druck auf dem Wohnungsmarkt, und nun kommt die gegenwärtige Krise dazu. Wir müssen befürchten, dass wieder mehr Menschen in Wohnungsnotlagen kommen. Das versetzt die Hilfesysteme in Alarmbereitschaft. Sie müssen die Lage der Menschen im Auge behalten, die ihr Einkommen verlieren, ihre Mieten wegen Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit nicht zahlen können. Jetzt heißt es zu verhindern, dass sie ihr Zuhause verlieren.
Sind zunehmend auch Jüngere und Familien mit Kindern betroffen?
Jüngere sind seit vielen Jahren eine stark betroffene Gruppe, ein gutes Drittel der Menschen ohne Wohnung ist unter 30, ihr Anteil nimmt aber nicht weiter zu. Die Zahl der Familien mit Kindern hingegen steigt. Einerseits sind da geflüchtete Familien, die bisher nur übergangsweise untergebracht sind, und andererseits hören wir aus der Praxis wieder häufiger, dass auch Familien mit Kindern ihre Bleibe verlieren.
Die Wohnung zu verlieren, kann jeden treffen, auch Gutsituierte, stimmt das?
Nein. Wohnungslosigkeit ist nach wie vor ein Armutsproblem, betroffen sind Menschen in Armutslebenslagen. Weil wir Forscher*innen so sicher sind, dass Wohnungslosigkeit ein lösbares Problem ist, ist es mir wichtig, klar zu stellen, dass nur ein kleiner Teil der Bevölkerung tatsächlich betroffen ist, nämlich weit unter einem Prozent. Das ist nicht die Mitte der Gesellschaft. Es ist zwar keineswegs so, dass jeder sich gut mit Wohnraum versorgen kann, und es stimmt, dass hohe Mieten mit Risiken einhergehen, aber es ist auch nicht so, dass jeder wohnungslos wird, der seine Miete nicht mehr bezahlen kann. Oft ziehen Menschen dann in kleinere Wohnungen oder ins günstigere Umland. Wohnungslos wird man, wenn es wirklich keine Alternativen mehr gibt.
Wie kann Wohnungslosigkeit verhindert werden?
Wir forschen jetzt seit 30 Jahren zur Wohnungslosigkeit und es gibt sie immer noch – das heißt, es ist kein leicht lösbares Problem. In Deutschland existieren viele Instrumente: Es ist Aufgabe der Städte und Gemeinden, Bürgerinnen und Bürger mit Wohnraum zu versorgen. Es gibt die Verpflichtung der Sozialleistungsträger, Kosten der Unterkunft zu übernehmen, wenn jemand das nicht allein schafft, und Mietschulden zu regulieren, wenn Wohnungslosigkeit droht. Wer keine Wohnung hat, muss mit einem Dach überm Kopf versorgt werden, und wir haben soziale Hilfen, damit Leute in ihrem Zuhause bleiben können. Dieses Instrumentarium reicht aus, um die Zahlen deutlich zu senken. Wir gehen aber davon aus, dass etwa jeder zweite, der heute als wohnungslos gezählt wird, davor einen Mietvertrag hatte. Die vorhandenen Instrumente müssen also viel besser eingesetzt werden, um von vorneherein zu verhindern, dass Menschen ihr Zuhause verlieren.
Was bedeutet das konkret?
Wir haben in unserer Studie festgestellt, dass die Jobcenter oft und ganz frühzeitig von den Betroffenen selbst informiert werden, dass der Verlust der Wohnung droht. Aber die Jobcenter leiten die Information nicht an die Stellen weiter, die tätig werden könnten. Das kann verbessert werden, auch dort, wo es, wie in Frankfurt, ausgezeichnet arbeitende Fachstellen zur Vermeidung von Wohnungslosigkeit gibt. Auch bei sogenannten ‚Systemsprengern‘, also bei Menschen, die wegen einer psychischen Erkrankung oder einer Suchterkrankung in Unterkünften oder Einrichtungen kaum zu halten sind, weil sie die Hilfesysteme an ihre Grenzen bringen, werden im Vorfeld nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Sie sind aus der Wohnungslosigkeit heraus nur noch ganz schwer zurück in eine Bleibe zu vermitteln. Prävention ist fast der einzige Weg. Hier liegen auch Aufgaben für die sozialpsychiatrischen Dienste, die sich viel stärker um die Lebenslage der Menschen kümmern müssen, und für rechtliche Betreuer. Im Zusammenspiel der wohnortnahen Hilfesysteme steckt eine Menge Potenzial für eine bessere Prävention.
Was raten Sie außerdem?
Die öffentlichen Stellen glauben immer, dass sie sichtbar und bekannt sind. Oft wird unterstellt, dass Menschen mit Mietschulden warten, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist, und erst dann nach Unterstützung fragen. In all unseren Interviews mit Wohnungslosen zeigt sich aber immer wieder, dass sie wohnungslos werden, weil sie die Angebote eben nicht kennen, weil sie eben nicht wussten, wo sie hingehen sollten. Für die Systeme heißt das, sie müssen sich so sichtbar machen, wie es nur geht. Durch frühzeitige Ansprache, aufsuchende Arbeit, bessere Vernetzung der öffentlichen Stellen, könnte man die Menschen erreichen, bevor Wohnungslosigkeit eintritt, und sie würden die Unterstützung auch annehmen, da bin ich sicher.
Und die andere Hälfte der Betroffenen, die schon lange keine Wohnung mehr hatten?
Das ist wesentlich schwieriger. Es müsste die oberste Maxime sein, dass Notunterbringung nur kurze Zeit dauern darf. Alle Register müssen gezogen werden, von der intensiven persönlichen Einzelfallhilfe bis hin zum Bau erschwinglicher Wohnungen für Haushalte mit kleinen Einkommen. Und diejenigen, die in der Warteschlange ganz hinten stehen, müssen auch mal eine Chance bekommen oder sogar mit Priorität vermittelt werden. Auch Wohnraumvermittlungen auf dem privaten Wohnungsmarkt mit Bürgschaften für Vermieter zeigen Wirkung, oder Kümmerer, die Probleme im Mietverhältnis lösen helfen. Ich bin auch Fan davon, dass eine Stadt freie Träger gezielt beauftragt, eine bestimmte Gruppe von Leuten mit Wohnraum zu versorgen und sie zu unterstützen. Das sind Lösungen, die funktionieren.
Würde das auch Housing First umfassen, das in Frankfurt am Main ja ausprobiert werden soll?
Housing First ist eine Strategie, die auf jeden Fall dazugehört. Es ist ein etwas komplizierteres Konzept, weil es zugleich voraussetzt, dass Wohnraum vorhanden ist und eine Idee transportiert, wer auf welche Weise mit diesem Wohnraum versorgt werden soll. Housing First will ein Gegenangebot zu dem Stufensystem machen, in dem Betroffene es sich verdienen müssen, eine Wohnung zu bekommen. Dem setzt Housing First einen anderen Ansatz entgegen. Alleine kann es aber die Mengeneffekte nicht schaffen.
Was müsste konkret in Frankfurt am Main passieren, um die Wohnungslosigkeit abzuschaffen?
Frankfurt ist nicht in gleichem Maße von Wohnungslosigkeit betroffen wie Berlin oder Hamburg. Es gibt eine gute Kenntnis über die Menschen auf der Straße und eine gute Kooperation unter den Trägern der Wohnungslosenhilfe. In Frankfurt leben mehr EU-Bürger*innen auf der Straße als in vielen anderen Städten. Sie lassen sich schwerer versorgen, haben weniger Rechte, sind eine eigenständige Gruppe. Die Stadt hat ein relativ gut ausgebautes Unterbringungssystem, sie tut viel, aber sie hat auch einen unglaublich schwierigen Wohnungsmarkt mit einer hohen Konkurrenz. Ohne dass sie aktiv bevorzugt werden, haben Menschen ohne Wohnung hier keine Chance. Eine Strategie, um Wohnungslosigkeit in Frankfurt zu beenden, muss also darin bestehen, Wohnraum zu akquirieren und ihn bevorzugt an Menschen ohne Bleibe zu vergeben. Das trifft allerdings in Frankfurt auch andere Haushalte, die dringend ein Zuhause suchen, so schürt man Konkurrenz. Frankfurt kann nicht wachsen, das ist ein weiteres Problem. Wer in Frankfurt eine Wohnung sucht, muss ins Umland.
Auch dort ist es bis in den Odenwald hinein schwierig, etwas Bezahlbares zu finden.
Das stimmt. In Frankfurt liegt die Lösung also vermutlich in einer konzertierten Strategie. Die Wohnungsbauunternehmen müssen ihren Anteil leisten, die Stadt muss Wohnungen mieten und an Geringverdiener zu kleinen Preisen weitergeben, konkrete Einzelfallhilfen leisten, Wohnprojekte freier Träger unterstützen und die Institutionen für die Betroffenen mit aufsuchender Arbeit bekannter machen. Die Probleme sind in Frankfurt im Blick. Wichtig ist, Wohnungslose nicht zu vertreiben und dorthin zurückzuführen, wo sie herkommen. Diese Strategie funktioniert nicht in attraktiven Großstädten.
Zunehmend gibt es Bürgerbewegungen, die sich mit Menschen auf der Straße solidarisch zeigen, zum Beispiel Essen kochen und verteilen. Wie gelingt der Schulterschluss zu professionell arbeitenden Institutionen wie Diakonie und Caritas?
Wenn man Wohnungslosigkeit als ein Problem begreift, das eine ganze Stadt angeht, dann müssen alle Akteure zusammenwirken. Es gilt, bürgerschaftlich Engagierte zu beteiligen, die manchmal auch andere Zugänge zu den Menschen haben. Es gibt immer nur die eine Antwort: Alle Ressourcen bündeln, alle Kapazitäten zusammenführen und abgestimmt arbeiten. Die Initiativen fühlen sich manchmal vereinnahmt, ihre Eigenständigkeit ist zu achten. Ganz schwierig sind Fronten, die entstehen können, das kenne ich aus manchen Städten, das darf auf keinen Fall passieren. Menschen auf der Straße spontan zu helfen zeigt die Bereitschaft, das Problem ernst zu nehmen. Eine Stadt muss entscheiden, dass sie keine Wohnungslosigkeit will.