image

Bewohnerinnen der Wohngemeinschaft Bonameser Straße im Gespräch über die Ausstellung in der St. Katharinenkirche

Ihre Geschichte wird nicht vergessen

Ihre Geschichte wird nicht vergessen
Ausstellung der Diakonie informiert über das Schicksal sogenannter „Berufsverbrecher“ und „Asozialer“ in Frankfurt.

Horst Gärtner schaut hoch zur Orgel in der St. Katharinenkirche an der Hauptwache. Lässt den Blick über die Pfeifen der Rieger-Orgel wandern und freut sich schon auf das Konzert am 12.Juni, das er gemeinsam mit seiner Familie besuchen will. Heute ist er zur Eröffnung der Ausstellung „… von Gauklern, Händlern und Artisten – Die Wohngemeinschaft Bonameser Straße: Geschichte der Verfolgung und Ausgrenzung“ des Diakonischen Werkes für Frankfurt und Offenbach in die St. Katharinenkirche gekommen. 14 Roll-ups mit Fotos und Texten erzählen die Geschichte von Horst Gärtners Familie und anderer Bewohner der Wohngemeinschaft Bonameser Straße. In vielen Gesprächen mit Kuratorin Sonja Keil sorgten die Bewohner:innen, unter ihnen Puppenspieler:innen, Artisten und Schausteller, dafür, dass ihre Geschichte nicht vergessen wird. Und sie trugen entscheidend dazu bei, dass beim Blick in die Vergangenheit ein neues Kapitel aufgeschlagen wurde: Das der sogenannten „Berufsverbrecher“ und „Asozialen“, zu denen ihre Vorfahren zählten, die in der Zeit der NS-Diktatur verfolgt, zwangssterilisiert und in KZs verschleppt wurden.

Die Vergangenheit des ehemaligen Frankfurter Sozialdezernenten Rudolf Prestel
Die Ausstellung in der St. Katharinenkirche informiert auch über die Rolle des Frankfurter Sozialdezernenten Rudolf Prestel, der 1937 an der Einrichtung des Zentrallagers für Sinti und Roma an der Frankfurter Dieselstraße mitwirkte, und nach dem Zweiten Weltkrieg hauptamtlicher Frankfurter Sozialdezernent wurde. Zudem leitete er von 1946-1954 das Frankfurter Gesundheitsamt und das Fürsorge- und Jugendamt von 1946-1966. Prestel sorgte nicht nur dafür, dass im 1953 in Eschersheim eröffneten Wohnwagenstandplatz für Gaukler, Händler, KZ-Überlebende und viele andere nur zwei Pumpen mit kaltem Wasser für bis zu 1000 Bewohner zur Verfügung standen. Er setzte dort auch Eva Justin ein, um Erhebungen vorzunehmen – trotz ihrer NS-Vergangenheit, während der sie als „Rasseforscherin“ im Team mit dem Direktor des Reichsgesundheitsamtes und Leiter der Rassenhygienischen Forschungsstelle Robert Ritter die NS-Zielsetzung der „Ausmerzung“ verantwortete und über 24.000 Menschen Gutachten anfertigte.

Diese Lebenswelt gehört dazu
Bei der Ausstellungseröffnung Ende Mai nimmt denn auch Elke Voitl, die amtierende Frankfurter Dezernentin für Soziales, Jugend, Familie und Senior:innen (Grüne) Stellung: „Die Rolle, die die Stadtverwaltung in den 1950er und 1960er Jahren gespielt hat, ist mir bewusst und ich bedauere dies zutiefst.“ Gleichzeitig verweist Elke Voitl auf das heutige Frankfurt mit seiner Unterschiedlichkeit und stellt fest: „Die Lebenswelt der Wohngemeinschaft Bonameser Straße gehört mit ihren Menschen und als Standort zu Frankfurt. Auch in der Zukunft, auch nach dem im kommenden Jahr 70-jährigen Bestehen.“

Vortrag über die verspätete Anerkennung als NS-Opfer zur Finissage
Einer, der stark dazu beitrug, die sogenannten „Berufsverbrecher“ und „Asozialen“, die in den KZs den grünen und schwarzen Winkel tragen mussten, als Verfolgte der NS-Diktatur anzuerkennen und ihrer zu gedenken ist Frank Nonnenmacher. Der emeritierte Professor für Sozialwissenschaften und Politische Bildung an der Goethe-Universität Frankfurt wird zur Finissage der Ausstellung am 9. Juni 2022 einen Vortrag halten über „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ im KZ – Die verspätete Anerkennung“. Nonnenmacher war einer von vier Sachverständigen, die 2019 während Anhörungen im Deutschen Bundestag auftraten. Er mahnte, anzuerkennen, dass es sich bei allen KZ-Häftlingen um Opfer des NS handelt, unabhängig von den Gründen, aus denen sie im KZ inhaftiert waren. Am 13. Februar 2020 nahm der Bundestag einen Antrag an, der die Bundesregierung auffordert, diese Opfergruppen mehr ins öffentliche Bewusstsein zu rücken, ihnen Platz im staatlichen Erinnern zu verschaffen und Ausstelllungen in Auftrag zu geben. Die Ausstellung in der St. Katharinenkirche ist die erste in Deutschland, die sich dem Erinnern an diese Opfergruppen widmet. Sie wurde von der Stadt Frankfurt und der Diakonie Frankfurt und Offenbach gefördert.

Doppelbiographie über das Schicksal von Ernst und Gustav Nonnenmacher
Frank Nonnenmacher ist nicht nur Experte, sondern auch familiär in die Geschichte dieser verfolgten Gruppe verwoben, die er in seinem Buch „Du hattest es besser als Ich – Zwei Brüder im 20. Jahrhundert“ aufschrieb. Am 9. Juni wird er daraus auch lesen. Die Doppelbiografie beschreibt das Leben von Ernst und Gustav Nonnenmacher, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Stuttgart als Söhne verschiedener Väter mit einer ledigen Mutter in extremer Armut aufwuchsen. Den jüngeren, Gustav, nahm die Fürsorge der Mutter weg und brachte ihn im Königlichen Waisenhaus am Charlottenplatz unter. Er flog als Soldat in Hitlers Luftwaffe mit und wurde nach dem Krieg freischaffender Bildhauer.

Als Wanderarbeiter, Hausierer und Kleindieb im KZ inhaftiert
Ernst trug früh durch kleine Diebstähle zum Lebensunterhalt bei, kam nach Schönbühl in die Fürsorge, wurde Wanderarbeiter, Hausierer und mehrfach wegen kleinerer Delikte vorbestraft. Aus der Polizeihaft kam er direkt ins KZ Flossenbürg und später ins KZ Sachsenhausen. Er musste dort den schwarzen Stoffwinkel der „Asozialen“ tragen und später den grünen Winkel der „Berufsverbrecher“. Die so Bezeichneten galten während der NS-Herrschaft als „Ballastexistenzen“, die „durch Arbeit vernichtet“ werden sollten. 75 Jahre lang wurde dieser Opfergruppe die Anerkennung verweigert. Frank Nonnenmacher ist der Sohn von Gustav und der Neffe von Ernst Nonnenmacher.

„Gegen Vergessen – Für Demokratie“
Die Finissage am Donnerstag 9. Juni 2022, 18 Uhr, in der St. Katharinenkirche, An der Hauptwache 1, erfolgt in Kooperation mit „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ e.V., die Moderation übernimmt Till Lieberz-Gross von „Gegen Vergessen – Für Demokratie“. Der Eintritt ist frei, eine verbindliche Anmeldung zur Finissage unter der E-Mail:
anmeldung@diakonie-frankfurt-offenbach.de ist erforderlich.

Die Ausstellung ist bis einschließlich Donnerstag, 9.Juni 2022, montags bis samstags von 12 – 18 Uhr, in der St.Katharinenkirche, An der Hauptwache 1, zu sehen. Der Eintritt ist frei.


bool(true)