image Foto: Rolf Oeser

Engagierte Diskussion mit Kirchenpräsident Volker Jung, Forscher Harald Dreßing, Moderatorin Claudia Keller, Pfarrer i.R. Matthias Schwarz und Dewi Suharjanto Bistum Limburg.

„Hinter jeder Zahl steht ein Mensch“

Bewegende Diskussion in der Evangelischen Akademie zur ForuM-Studie mit Kirchenpräsident Volker Jung und Forscher Harald Dreßing

Die Geschichte ist schmerzhaft, selbst beim bloßen Zuhören. Als seine Mutter vor einem Jahr starb, dachte Matthias Schwarz lange darüber nach, ob er zu ihrer Beerdigung kommen kann. Denn die Trauerfeier in seinem Heimatort wurde genau in der Kirche abgehalten, in der ihm unfassbares Leid angetan wurde. Er sei dann doch gefahren, aber die Wiederbegegnung mit dem Ort, an dem er missbraucht wurde, habe ihn länger beschäftigt erzählt Matthias Schwarz den Zuhörenden im vollbesetzten Saal der Evangelischen Akademie Frankfurt.

Erste öffentliche Diskussion

Am Aschermittwoch wurde in der Evangelischen Akademie erstmals öffentlich über die ForuM-Studie zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche und Diakonie gesprochen. Professor Harald Dreßing vom Forschungsverbund ForuM setzte in einem einleitenden Vortrag Impulse und ging auf dem Podium in den Austausch mit dem Kirchenpräsidenten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) Volker Jung sowie mit Matthias Schwarz von der Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt der EKHN und Betroffenenvertreter im Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt in der EKD und Dewi Suharjanto, Projektleiterin der Missbrauchsstudie im Bistum Limburg.

Viele Fragen aus dem Publikum

Auch die Zuhörer:innen im Saal meldeten sich zu Wort, nutzten rege die ausliegenden Zettel, um ihre Fragen, Einsichten oder Appelle an das Podium zu richten. Publikumsanwältinnen trugen ihre Fragen vor: zu nicht ausgewerteten Akten beispielsweise oder ob der Staat die Missbrauchsfälle aufarbeiten sollte, manche fragten, wohin sich Betroffene wenden sollen oder wollten wissen, wie eine Seelsorge der Zukunft gestaltet werden könnte. Denn, so hatte Professor Dreßing eingangs die Studienergebnisse zusammengefasst, insgesamt 511 der 1259 Beschuldigten waren Pfarrpersonen. Immer wieder hatten die Forschenden betont, die 2250 in der Studie genannten Missbrauchsfälle seien nur die „Spitze der Spitze des Eisberges“.

Macht und sexualisierte Gewalt gleich in der Ausbildung thematisieren

Matthias Schwarz, der trotz der Belastungen durch seine Geschichte Pfarrer wurde, inzwischen in Ruhestand, nannte in Bezug auf Seelsorgesituationen Beispiele aus seiner Praxis: So habe er in Seelsorgegesprächen dafür gesorgt, dass ein geschützter Raum entstand, in dem aber zugleich auch sein Gegenüber vor ihm geschützt war. Einzelgespräche mit Konfirmanden führte er im Gemeindehaus, während dort andere Personen anwesend waren oder in der von außen gut einsehbaren Kirche und er legte die Gespräche zeitlich so, dass die Konfirmanden immer zu zweit oder zu dritt kamen. Dass die Themen Macht und sexualisierte Gewalt dringend in die Ausbildung künftiger Theologinnen und Theologen integriert werden müssen, darin waren sich Matthias Schwarz, Forscher Harald Dreßing und Kirchenpräsident Volker Jung einig.

Der mächtigste Mann an der Spitze der Landeskirche

Auf die Frage von Moderatorin Claudia Keller, Chefredakteurin von Chrismon, wie er damit umgehe, der mächtigste Mann an der Spitze der EKHN zu sein, antwortete Volker Jung sehr nachdenklich: „Es ist Macht da, auch Pastoralmacht, auch in Arbeitsbeziehungen“. Es gelte, „selbstkritisch zu reflektieren, was mache ich mit der Macht?“ Mit einem persönlichen Coach bespreche er, wie er damit umgehe.

In seinem Vortrag hatte Professor Dreßing in Bezug auf die beschuldigten Pfarrpersonen von einem Missbrauch pastoraler Macht gesprochen. Betroffene erlebten eine „doppelte Traumatisierung“ sie seien durch sexualisierte Gewalt und zusätzlich in ihrer Spiritualität verletzt, sagte der Psychiater.

Mängel beim Umgang mit Akten und Informationen

In Bezug auf die Personalakten empfahl der Forscher, die Landeskirchen sollten nacharbeiten. Die Forschenden der ForuM-Studie erlebten eine fehlende Verschlagwortung der Akten, die meisten Landeskirchen hätten auch nicht ausschließen wollen, dass Akten verschwunden seien. Beim Wechsel Beschuldigter in andere Landeskirchen seien Fälle nicht sauber in Akten dokumentiert worden, so dass aufnehmende Landeskirchen nicht wussten, wen sie aufnehmen. Informationen seien teilweise nur mündlich gelaufen. Auch die Ansprechpersonen für Betroffene hätten unterschiedlich protokolliert, was die Betroffenen ihnen sagten, und dies zum Teil nur mündlich an ihre Nachfolger:innen weitergegeben. Wenn Präventionsmaßnahmen implementiert wurden, seien Betroffene unzureichend einbezogen worden und die Ressourcen für Prävention nicht beschrieben worden. „Hinter jeder Zahl steckt ein Mensch“ sagte Dreßing und verwies auf die gravierenden gesundheitlichen und emotionalen Folgen für Menschen, denen sexualisierte Gewalt angetan wurde. Missbrauch habe es in allen Kontexten gegeben, in Gemeinden, in der Jugendarbeit, in Heimen, durch Erzieherinnen oder Kirchenmusiker.

Erst aufklären, dann aufarbeiten

Für die Zukunft riet der Forscher: „Wir sind noch in der Phase der Aufklärung.“ Aufklärung und Aufarbeitung sollten nicht vermischt werden. Und „auf keinen Fall“ sollte jede Landeskirche nach ihrem Gusto handeln. Vielmehr seien einheitliche Standards vonnöten, die Archive sollten von externen Rechtsanwaltskanzleien nach einheitlichen Standards gesichtet werden. Auch interdisziplinäre Kommissionen sollten, mit einer gesetzlichen Grundlage versehen, in Archive gehen dürfen. Die Politik sei da „sehr zögerlich“. Wahrheitskommissionen einzurichten, auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen, befürworte er.

Nicht mehr bürokratisch kalt reagieren

Auch Kirchenpräsident Volker Jung sagte, „staatliche Unterstützung wäre gut.“ Er bekannte sich zu seiner „Verantwortung, dass Betroffenen gut begegnet wird.“ Er fragte: „Was heißt das, als Verwaltung so zu agieren, dass die Betroffenen das als Hilfe wahrnehmen.“ Teilweise seien Schreiben an Betroffene „bürokratisch kalt“ ausgefallen. Jung: „Eine andere Sprache muss gesprochen werden, und wir müssen uns permanent in den Strukturen weiterentwickeln.“ Zum Thema Akten sagte Jung, die EKHN habe zusätzlich Beschwerdeakten ausgewertet, elf Fälle seien so entdeckt worden.

Beschuldigte leugnen die Tat

Professor Dreßing wies daraufhin, dass ein Großteil der Beschuldigten die Tat bestreitet. Er sagte, es sei wichtig, möglichst viele Strafverfahren anzustrengen, Täter müssten bestraft und aus dem Verkehr gezogen werden. Bei den zahlreichen Fragen aus dem Publikum kam auch das Statement: „Bitte zwingt uns nicht zur Anzeige, dann übt ihr wieder Gewalt gegen uns aus.“
Zwei Seelsorgerinnen standen im Anschluss an die Veranstaltung für Gespräche zu Verfügung.

Anlaufstellen für Betroffene:
Akute Hilfe bei der Telefonseelsorge (24h-Dienst)
0800-11 10 222

Zentrale Anlaufstelle.help:
Unabhängige Information für Betroffene von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie
0800-50 40 112
https://www.anlaufstelle.help

Anlaufstelle für Betroffene von sexualisierter Gewalt in der EKHN:
https://www.ekhn.de/themen/null-toleranz-bei-gewalt/infos/ansprechpersonen

Weitere Informationen zur ForuM-Studie finden Sie hier.


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