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Susanne Gerull veröffentlichte im März die Studie „Wohnungslos in unsicheren Zeiten“. Sie basiert auf bundesweiten Befragungen in Einrichtungen der Diakonie.

„Flächendeckende aufsuchende Hilfen bei drohendem Wohnungsverlust…DAS WÄR’S!”

Interview zu Wohnungslosigkeit mit Professorin Susanne Gerull.

Die Armutsforscherin lehrt an der Alice Salomon Hochschule Berlin Soziale Arbeit mit den Schwerpunkten Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit und niedrigschwellige Sozialarbeit

Frau Professorin Gerull, wie geht es wohnungslosen Menschen, die auf der Straße leben?

Susanne Gerull: Menschen, die auf der Straße, in Abbruchhäusern, im Zelt oder ähnlichen Situationen leben – also als obdachlos gelten – geht es in allen Lebenslagen im Vergleich zu anderen Wohnungslosen deutlich schlechter. Die wenigsten erhalten Hartz IV, sie haben viel seltener Zugang zu medizinischen Angeboten und sie schätzen ihre gesundheitliche Situation als sehr schlecht ein.

Wie steht es um die Sicherheit von Männern und Frauen auf der Straße?

Gerull: Sie sind in der Regel komplett ohne Schutz, fast 60 Prozent gaben in unserer Lebenslagenstudie an, im vergangenen halben Jahr mindestens einmal im Monat bedrohliche Situationen erlebt zu haben.

Seit mehr als 35 Jahren befassen Sie sich mit Wohnungslosigkeit, erst als Praktikerin, jetzt in der Lehre und Forschung, was hat sich verändert?

Gerull: Als ich 1985 in der Sozialbehörde anfing, war es der klassische weiße, etwa 50- bis 60-jährige wohnungslose Mann. Ende der 1980er-Jahre wurden Frauen eine eigenständige Zielgruppe der Wohnungslosenhilfe, die sichtbare Wohnungslosigkeit bei Frauen stieg immer weiter. Inzwischen werden auch andere Geschlechtsidentitäten auf der Straße wahrgenommen, die EU-Bürger:innen und die Geflüchteten kamen dazu. Erst Ende der 1980er-Jahre rückte in den Fokus, Wohnungslosigkeit von vorneherein zu verhindern. Dafür haben wir eine sehr gute rechtliche Grundlage.

Passiert genug zur Verhinderung von Wohnungslosigkeit? In einer Ihrer Studien zeigen Sie, dass der rechtliche Rahmen vielfach gar nicht ausgeschöpft wird…

Gerull: Ja, das ist wirklich dramatisch. Im Vergleich mit 13 anderen europäischen Staaten haben wir in Deutschland ein hervorragendes Mietrecht, es eröffnet die Chance, selbst nach einer Räumungsklage gegen den Willen des Vermieters in der Wohnung zu bleiben, vorausgesetzt die Mietschulden werden bezahlt. Und auch das Sozialrecht bietet in Deutschland einzigartige Möglichkeiten: Wenn sich jemand mit Mietschulden meldet, dürfte er eigentlich gar nicht wohnungslos werden, es sei denn, er wohnt in einer 100-Quadratmeter-Wohnung mit goldenen Fensterrahmen. Als ehemalige Behördenmitarbeiterin werfe ich Ämtern immer noch vor, dass sie die Vorschriften zum Teil wirklich falsch auslegen.

Inwiefern?

Gerull: Es gibt eine Soll-Vorschrift, der zufolge die Übernahme der Mietschulden die Regel sein muss, aber sie wird regelmäßig so ausgelegt, dass die Übernahme der Mietschulden trotzdem abgelehnt wird. Und wenn die Mietschulden mal übernommen werden, erfolgt dies meist als zurückzuzahlendes Darlehen, auch hier wird eine gesetzliche Vorschrift zum Nachteil der Betroffenen ausgelegt. Wir wissen aus Studien, dass Jobcenter-Mitarbeiteri:nnen sagen, „ich muss ja auch arbeiten und Miete zahlen und mich dafür einschränken” – dieses Bauchgefühl sollte aber nicht Grundlage von Entscheidungen sein. Gegen die Richtlinien in manchen Ämtern, die wir informell kennen, könnte man sofort vor Gericht ziehen.

Viele Betroffene schämen sich aber …

Gerull: Genau, Menschen, die sich am liebsten wegducken, weil sie ihre Miete nicht zahlen können und vielleicht gar nicht zuhause sind, wenn der Gerichtsvollzieher kommt, gehen nicht vor Gericht. Wenn sie es täten, hätten sie oftmals sehr gute Chancen, zu gewinnen. 

Eigentlich ist es unverständlich, dass Prävention so wenig genutzt wird, es ist doch viel schwieriger, jemandem wieder ein neues Zuhause zu vermitteln, als die Wohnung gleich zu behalten.

Gerull: Ja, es ist teurer, Menschen wieder in eine Wohnung zu bringen. Wenn die Mietschulden aber entsprechend hoch sind, ist es nicht unbedingt teurer, die Betroffenen in einer Unterkunft für Wohnungslose unterzubringen. Vor allem denke ich aber, dass eine klare Ablehnung von Menschen mitschwingt, die wohnungslos sind. Da wird mit Schuld gearbeitet, da heißt es „jemand wird ja nicht ohne Grund wohnungslos”. So wirken moralische Beurteilungen auf Entscheidungen von Sozialämtern und Jobcentern, obwohl sie doch so große Spielräume bei der Übernahme von Mietschulden haben.

Was sollten Ämter und Behörden tun?

Gerull: Sich gesetzeskonform verhalten. Hinzukommt: Die Behörde muss zwar informiert werden, wenn jemand infolge von Mietschulden eine Räumungsklage hat, aber wenn die Räumungsklage nur wegen anderem mietwidrigen Verhaltens erfolgt, darf sie aus datenschutzrechtlichen Gründen gar nicht informiert werden. Hier wäre es wichtig, Gesetze zu reformieren, damit in diesen Fällen der Datenschutz weniger schwerwiegt als der Schutz von Menschen, die Hilfe brauchen und sich nicht trauen, zum Sozialamt oder zum Jobcenter zu gehen. Wir brauchen deshalb flächendeckende aufsuchende Hilfen bei drohendem Wohnungsverlust, dies passiert jetzt in Berlin. 

Befürchten Sie, dass infolge steigender Energiekosten mehr Menschen ihre Wohnung verlieren werden?

Gerull: Ja, ich glaube, dass das wirklich dramatisch werden könnte, verschiedene Seiten fordern ja, wie bei Corona, Kündigungen aufgrund von Mietschulden wegen steigender Energiepreise befristet zu verbieten. Es muss sehr schnell gehandelt werden und es braucht eine Öffentlichkeitskampagne, um Menschen darauf hinzuweisen, überprüfen zu lassen, ob sie Anspruch auf Wohngeld, auf ALG II oder ähnliches haben.

Subjektiv schätzen wohnungslose Menschen ihre Situation besser ein als sie objektiv ist und blicken positiv in die Zukunft. Sind das Ressourcen, an die die Wohnungsnotfallhilfe anknüpfen kann?

Gerull: Auf jeden Fall. Leute sagten uns in anderen Studien tatsächlich: „Und ich hab immer in die Zukunft geguckt, ich schaffe das, ich hole mir Hilfe und dann kriege ich das hin.” Das ist auch die einzige Möglichkeit, damit Hilfe greifen kann.

Genau wie die Diakonie Deutschland schlagen Sie vermehrte Housing-First-Projekte vor – so wie es die Diakonie Frankfurt und Offenbach gerade verwirklichte – und eine Quote für wohnungslose Menschen im Wohnungsbau.

Gerull: Die beste Unterkunft ist nie so gut wie eine Wohnung mit eigenem Mietvertrag, die Menschen treten dann ganz anders auf. Die Politik muss sagen, „Wohnen ist ein Menschenrecht und wer nicht die Ressourcen hat, sich seine Wohnung aussuchen zu können – was sowieso immer weniger können – der muss Zugang zu menschenwürdigem und bezahlbarem Wohnraum erhalten”. Die Debatte über Housing First verändert gerade etwas in den Köpfen. Die Vorstellung, dass jemand nicht in der Lage sein soll zu wohnen, die finde ich unglaublich entwürdigend.

Was können Frankfurter:innen und Offenbacher:innen tun, um die Lage wohnungsloser Menschen zu verbessern?

Gerull: Die politisch Verantwortlichen und die Freien Träger sind zuerst in der Pflicht. Aber es gibt auch die jahrhundertelange Tradition der Herabwürdigung wohnungsloser Menschen. Ich sitze immer mal mit obdachlosen Menschen, die ich kenne, mit einem Kaffee am Kanal. Sie erzählen mir Folgendes: „Ich will, dass die Leute mir wenigstens ins Gesicht gucken. Es ist eine Respektlosigkeit, wenn sie weggucken, wenn sie mich sehen.” Es geht nicht um den Euro im Becher oder eine kurze Unterhaltung, es geht um dieses Weggucken. Es ist für Menschen, die sichtbar wohnungslos sind, ganz dramatisch, wenn sie nicht gesehen werden. Ihnen außerdem eine Wasserflasche zu geben bis hin zum Ehrenamt in der Wohnungslosenhilfe – das sind dann nächste Schritte.

Zur Person:
Prof. Dr. Susanne Gerull lehrt Soziale Arbeit mit den Schwerpunkten Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit und niedrigschwellige Sozialarbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin.

Von 1985 bis 1999 arbeitete die diplomierte Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin in der behördlichen Wohnungslosenhilfe in Berlin.

Im März 2022 legte sie „Wohnungslos in unsicheren Zeiten, Ergebnisse der 2. Lebenslagenuntersuchung wohnungsloser Menschen“ vor, eine Studie der Alice Salomon Hochschule Berlin in Kooperation mit dem Evangelischen Bundesfachverband Existenzsicherung und Teilhabe e.V. (EBET). Sie basiert auf bundesweiten Befragungen in Einrichtungen der Diakonie.

Hier können Sie Online für die Wohnungslosenhilfe der Diakonie spenden!

Spendenkonto:
Diakonie Frankfurt und Offenbach
DE 11 52 060 41 00 10 4000 200
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Stichwort: Obdachlosenhilfe 23

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